Vorotan-Schlucht: Auf der Suche nach dem Machu Picchu Armeniens

Tief in der Vorotan-Schlucht im Süden Armeniens verbirgt sich das "Machu Picchu des Kaukasus". Mal ehrlich... Wer könnte bei so einem Vergleich schon widerstehen? Und tatsächlich wurde es ein spektakulärer Tagesausflug mit geheimnisvollen Ruinen, einzigartigen Landschaften - und keiner Menschenseele weit und breit. Diese Tour solltest du dir nicht entgehen lassen!

Kleiner Tipp: Wenn du die Tour durch die Vorotan-Schlucht selbst laufen willst, findet du am Ende des Artikels Infos zur Anreise und den GPS-Track für die Route.

Langsam rumpelt das Taxi über die staubige Landstraße. Es ist noch keine 10 Uhr, aber die Sonne im tiefen Süden von Armenien brennt schon mit voller Stärke vom wolkenlosen Himmel herunter. Zu meiner Linken rauschen die kargen Hügel der Provinz Syunik vorbei. Zur Rechten die dicht bewaldete Vorotan-Schlucht, die sich wie ein grünes Band durch die ausgedörrte Landschaft zieht.

Aus dem Radio plärrt Armeni-Pop. Der Taxi-Fahrer summt zufrieden vor sich hin. Im Fahrzeug ist es stickig. Seit wir die kleine Ortschaft Tatev vor einer halben Stunde verlassen haben, ist uns kein einziges anderes Auto begegnet.

Im tiefen Süden von Armenien

Ein paar Minuten später biegen wir rechts auf eine Geröllpiste ab und fahren durch das Dorf Khot – in Wirklichkeit nicht mehr als eine Ansammlung von schmutzigen Betonhütten an der einzigen Straße.

Schließlich stoppen wir an einer Schutthalde am Rand der Schlucht. Glasscherben, alte Blechbüchsen und Plastikschrott knirschen unter meinen Füßen als ich aus dem Taxi steige.

Ich bin unsicher.

Ist das wirklich der Ort, an dem sich das Machu Picchu Armeniens befindet?

Als ich den Fahrer zur Sicherheit nochmal frage, nickt er nur und deutet in Richtung des Abgrunds.

„Down“.

Dann verabschiedet er sich, wünscht mir einen schönen Tag und macht sich wieder auf den Weg. Einige Augenblicke später ist er hinter einer dicken Staubwolke verschwunden.

Ich ziehe meinen Rucksack auf und wage einen Blick in die Schlucht.

Ausblick auf Hin-Khot vom Rand der Vorotan-Schlucht.
Blick vom Dorf Khot auf die Ruinen der früheren Siedlung Hin Khot (Alt-Khot).

Und tatsächlich: Weit unter mir erkenne ich die Ruinen von Hin Khot in der flirrenden Hitze. Genau wie die berühmte Inka-Stadt in den Anden erstrecken sich die verlassenen Häuser auf mehreren Terrassen und schmiegen sich an die Wände der Schlucht.

Genau wie Machu Picchu – mit einem entscheidenden Unterschied.

Andere Besucher? Fehlanzeige

Touristen sind hier Fehlanzeige. Es gibt keine Guides, keine Tourenbusse, kein Kassenhäuschen, keine Souvenir-Shops. Nur einen einsamen Schotterweg, der in die Schlucht führt. Ich bin die einzige Menschenseele weit und breit.

Wahnsinn! Das ist genau das, was ich gesucht habe. Meine Vorfreude steigt.

Der Weg verläuft in steilen Serpentinen den Hang hinab und nach einigen Augenblicken verschwinden die Ruinen aus meinem Blickfeld. Dafür bietet sich mir in der nächsten Kurve ein unerwarteter Anblick: Auf einem großen Stein prangt eine rotweiße Markierung.

Am Weg finden sich Markierungen.

In Armenien ist das eine absolute Seltenheit. Ausgewiesene Wanderrouten gibt es hier kaum, die meisten Wege sind Trampelpfade, die von Bauern oder Hirten benutzt werden.

Ich muss schmunzeln, dass sich jemand die Mühe gemacht hat, ausgerechnet an diesem gottverlassenen Ort einen Wegweiser anzubringen und lasse kurz Revue passieren, was ich eigentlich über Hin Khot weiß.

Es ist nicht viel.

Die Vorotan-Schlucht: Das bestgehütetste Geheimnis Armeniens?

Im Internet gibt es kaum Informationen über die Vorotan-Schlucht und die Ruinen. Der Wikipedia-Eintrag beschränkt sich auf zwei Zweilen. Dass ich überhaupt davon weiß, ist nur einem glücklichen Zufall zu verdanken.

Als ich nach Wanderrouten in der Umgebung gesucht habe, bin ich auf einem der wenigen englischsprachigen Blogbeiträge gelandet – und bei dem Vergleich mit Machu Picchu natürlich sofort hellhörig geworden.

Den spärlichen Informationen zufolge, ist die Stadt sehr alt. Die Ruinen der ältesten Kirche stammen aus dem 12. Jahrhundert. Angeblich waren die Glocken dieser Kirche so laut, dass man sie in der ganzen Schlucht bis ins 20 km entfernte Kloster Tatev hörte.

Auf der Hinfahrt hat mir der Taxifahrer erzählt, dass Alt-Khot noch zu Sowjetzeiten bewohnt war. In den 1970er-Jahren gab es dann wohl ein starkes Erdbeben. Daraufhin verließen die Bewohner ihre alten Häuser, um sich eine neue Siedlung in bequemerer Lage zu bauen. Nämlich ein paar hundert Meter weiter oben.

Klar, das war die kleine Ortschaft mit den hässlichen Betonhütten, die ich auf der Hinfahrt gesehen habe. Ob sich in ein paar hundert Jahren auch noch jemand daran erinnern wird?

Ich bezweifle es – und damit mache ich mich wieder auf den Weg.

Weg nach Hin Khot.
An dieser Stelle wurde der Weg kurzzeitig zu einem Bach…

Wohnen doch noch Leute in den Ruinen?

Ein paar Minuten später ändert sich die Umgebung schlagartig, als ich in den bewaldeten Teil der Schlucht eintrete. Ich laufe unter schlanken Laubbäumen, die Hänge verschwinden unter dichten Brombeerbüschen und wilden Hyazinthen.

Von oben plätschert ein Wasserlauf herab und verwandelt einen Teil des Weges in einen kleinen Bach. Mir bleibt nichts anderes übrig, als durchzuwaten.

Schließlich erreiche ich den westlichen Teil der alten Siedlung. Ein Wirrwarr aus Wegen und Pfaden zieht sich durch die alten Grundmauern der Gebäude. Treppchen aus übereinandergeschichteten Ziegelsteinen führen ins Nirgendwo.  Aus einem Rohr in der Mauer zu meiner Linken sprudelt Wasser, das Rinnsal bahnt sich ungehindert seinen Weg durch die Ruinen.

Der westliche Teil von Hin Khot

Moment… wieso sollte es hier eine Wasserleitung geben, wo doch gar niemand hier mehr wohnt?

Gerade als mich das frage, höre ich Hufgetrappel vor mir. Aus dem Unterholz taucht ein vielleicht 12- jähriger Junge auf seinem Esel auf. Er schaut mich fragend an, sichtlich über den Touristen überrascht, der hier zwischen den Ruinen herumspaziert. Ich versuche es mit einem vorsichtigen „Hello…?“, aber er kneift nur die Augen zusammen.

Meine weiteren Bemühungen ein Gespräch anzufangen, stoßen auf taube Ohren. Wahrscheinlich ist der Junge einfach nur schüchtern. Ich verabschiede mich, winke dem Kind noch einmal und sehe zu, wie er auf seinem Esel davonreitet.

Über zugewucherte Trampelpfade geht es weiter in den östlichen Teil der Stadt, den Bereich den man vom Rand der Schlucht weiter oben sehen konnte. Nach und nach lichten sich die Bäume, das Unterholz wird weniger – und als ich aus dem Schatten heraustrete, komme ich aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Das Machu Picchu des Kaukasus

Vor mir liegen nicht nur ein paar Grundmauern und alte Ziegelsteine, sondern die gut erhaltenen Ruinen einer gar nicht mal so kleinen Stadt. Der Vergleich mit Machu Picchu ist definitiv nicht nur ein cleverer Marketing-Gag!

Ruinenstadt in der Vorotan Schlucht

Ich bin auf einer Art Platz herausgekommen, der früher vielleicht mal ein Versammlungsort war. Zu meiner Linken führt ein schwarz gähnender Eingang unter einem Torbogen in eine Art Tunnel. Um mich herum in alle Richtungen Mauern und Gebäude in verschiedenen Stadien des Verfalls.

Dorfplatz von Hin Khot.

Die Stadt liegt auf einer Art natürlichen Plateau, das sich auf mehrere Terrassen verteilt und entlang dem Hang der Schlucht zu meiner Rechten abfällt. Von Gras überwachsene Wege schlängeln sich durch das Häusergewirr. Mir fällt es schwer, in dem Gewirr eine Ordnung zu erkennen.

Ich bin für einen Moment komplett baff und versuche die Eindrücke zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenzufügen.

Nachdem ich mich wieder gefangen habe, beginne ich meine Erkundung von Khot. Die völlige Abwesenheit von irgendwelchen anderen Touristen macht das Ganze natürlich nur umso aufregender. Ich fühle mich wie Indiana Jones, der gerade eine verlorene Stadt im Dschungel wiederentdeckt hat.

Panoramablick auf Hin Khot.

Felswohnungen und unterirdische Tunnel

Am meisten beeindruckt mich, wie die Bewohner den begrenzten Raum an den Hängen der Schlucht genutzt haben. Teilweise sind die Gebäude fast vertikal übereinander gebaut.  Dass sie die Häuser auf verschiedenen Terrassen angeordnet haben, ist aber nicht alles.

Aussicht aus einer Felsenwohnung.

Als ich in den Schatten eines Hauses eintrete, bemerke ich ein großes Loch im Boden – das direkt durch die Decke des Hauses darunter führt. Einige dieser Löcher befinden sich auch im Freien und sind fast zugewuchert.

Loch in der Decke eines Hauses.
Diese Löcher kann man leicht übersehen.

Das architektonische Highlight von Khot sind für mich die Felswohnungen. Die früheren Bewohner der Stadt haben nicht bloß Häuser aus übereinandergeschichteten Ziegeln gebaut, sondern höhlenartige Behausungen direkt in die Felsnadeln und Hänge der Schlucht gegraben.

Höhlenwohnungen in der Vorotan Schlucht.

Ein faszinierender Anblick – die kreisrunden Türen und Fenster verleihen den Felsen den Anblick von versteinerten Gesichtern.

Mir kommt es vor als würden mich die Eingänge wie Augen anglotzen und für einen Moment fühle ich mich wie ein Eindringling, der die Ruhe dieses Ortes gestört hat.

Die Überraschungen scheinen kein Ende zu nehmen. In vielen der Felswohnungen sind durch die Wände Gänge in den Stein gegraben – offensichtlich sind die einzelnen Wohnungen durch unterirdische Zugänge miteinander verbunden.

In einer Höhlenbehausung.

Ich will nicht riskieren mein Abenteuer vorzeitig in einem dunklen Tunnel zu beenden und gehe stattdessen lieber wieder ans Tageslicht. Ich beschließe, die Schlucht nach oben zu klettern, um einen schönen Panoramablick auf die Ruinen zu genießen.

Unverhoffte Begegnung…

Noch bevor ich die Spitze der Felsnadeln erreiche, höre ich plötzlich ein Geräusch hinter mir. Hufgeklapper. Ich drehe mich um und sehe zu meinem Erstaunen wie eine kleine Herde Pferde durch die verfallenen Straßen trabt.

Pferde in der Schlucht.

Ein Besitzer ist weit und breit nicht zu sehen, aber das scheint die Tiere nicht zu stören. Die Pferde laufen unbekümmert zwischen den Ruinen, als würde die Stadt ihnen gehören. Als ich pfeife, drehen sie nicht einmal den Kopf.

Ich will gerade wieder heruntergehen, als ich noch etwas anderes sehe, das mich innehalten lässt.

Ausblick über die verlassene Stadt mit einem einzelnen bewohnten Haus.
Irgendwas passt hier nicht ganz in die Umgebung…

Am südlichen Ende der Stadt steht ein einzelnes modernes Haus aus Beton mit rotem Schieferdach. Auf meinem bisherigen Weg durch die Ruinen habe ich es nicht gesehen, weil es sich unterhalb des Plateaus befindet, auf dem der Rest der Stadt liegt.

Ich kneife die Augen zusammen.

Tatsächlich: Kaum zu erkennen, aber im Wind flattert eindeutig die armenische Nationalflagge über dem Dach des Hauses. Das muss ich mir näher anschauen. Anscheinend wohnen hier wirklich noch Leute.

Die letzten Bewohner von Hin Khot

Auf dem Weg zurück passiere ich einige Pferde, die sich immer noch zischen den verlassenen Häusern tummeln. Als ich näherkomme scheren sie aus und galoppieren scheu davon. Es wirkt nicht so, als ob sie Menschen gewöhnt sind.

Wieder unten angelangt, tue ich mich schwer einen Weg zu dem Haus zu finden. Ich versuche die richtige Richtung zu halten, einmal höre ich in einiger Entfernung Stimmen.

Aber die überwachsenen Trampelpfade bilden ein wahres Labyrinth. Die scharfen Dornen der Brombeeren erlauben kein Durchkommen und ich muss einen Moment lang an das verwunschene Schloss im Märchen „Dornröschen“ denken.

Schließlich gebe ich entnervt auf und kehre wieder zu dem großen Platz zurück, an dem ich meine Erkundung des östlichen Teils gestartet habe.

Zurück am Eingang von Hin Khot.

Inzwischen sind gut zwei Stunden vergangen, in denen ich durch die Ruinen spaziert bin. Ich habe zwar nicht ansatzweise alles von der Stadt gesehen und ein bisschen wurmt es mich schon, dass ich die einzigen Bewohner nicht kennengelernt habe, aber ich muss weiter. Vor mir liegen noch knapp 15 Kilometer Fußmarsch durch die Vorotan-Schlucht.

Kurz bevor ich die Ruinen hinter mir lasse, komme ich an einem Friedhof am Rand eines kleinen Wäldchens am südwestlichen Ende der Stadt vorbei. Die verwitterten Grabsteine sind mit Disteln und Brombeeren überwuchert, auf einem erkenne ich noch das Todesjahr: 1912. Ein altes Kreuz aus Metall rostet auf einem Steinhügel vor sich her.

In der Stille und der Hitze der Mittagssonne wirkt der Ort irgendwie unheimlich. Das einzige Geräusch ist das Zirpen der Grillen und das leise Rauschen des Windes in den Blättern. Wer auch immer hier wohnt – um den Friedhof kümmert er sich jedenfalls nicht.

Ich sehe zu, dass ich weiterkomme und lasse die Ruinen von Khot endgültig hinter mir.

Faszinierende Felsformationen.

Geisterstädte in der Vorotan-Schlucht

Einen Weg in der Schlucht zu finden ist nicht sonderlich schwer. GPS-Tracks oder Wanderführer für diesen Teil von Armenien sucht man natürlich vergeblich, aber die braucht man eigentlich auch nicht zwingend. Die Navigation erfolgt einfach, indem man sich an der Landschaft orientiert.

Mein Plan ist relativ simpel: Von Khot aus will ich entlang der Schlucht in Richtung Tatev zurücklaufen, wo das Taxi morgens gestartet ist. Dabei komme ich an zwei weiteren verlassenen Dörfern vorbei – Shinuhayr und Halidzor – die genau wie Khot aufgegeben und weiter oben neu aufgebaut wurden.

Kirche auf dem Weg nach Shinuhayr.
Verlassene Kirche auf dem Weg nach Shinuhayr.

Auf Trampelpfaden über dem Vorotan-Fluss

Überraschenderweise zeigt Open Street Map aber selbst in diesem nur wenig erschlossenen Teil der Welt einige Wege an. Der Karte zufolge führt der Weg bis Halidzor. Dort gibt es eine Straße, die die Schlucht durchquert und auf meiner Seite wieder hoch zur Landstraße führt.

Von dort sind es dann nur noch ein paar Meter bis zur Seilbahn „Wings of Tatev“, die laut Eigenauskunft die längste Seilbahn der Welt in einem Stück ist, und mich zurück nach Tatev bringen soll.

Wanderweg durch die Vorotan Schlucht.

Glücklicherweise brauche ich die Karte nur ausnahmsweise. Der Pfad ist sehr einfach zu erkennen: Im Prinzip folgt er durchgängig dem Verlauf der Schlucht und bleibt dabei auf halber Höhe zwischen oberem Ende und dem Boden der Schlucht, wo der Vorotan-Fluss vor sich hinplätschert.

Um die Sache noch weiter zu erleichtern, sind von Zeit zu Zeit tatsächlich immer wieder die rot-weißen Markierungen auf den Steinen angebracht. Es führen zwar immer wieder nicht eingezeichnete Trampelpfade vom Weg ab. Aber eigentlich kann man sich nicht verlaufen und ich verlege mich ganz darauf die Landschaft und die Natur zu genießen.

Und was für eine Landschaft das ist!

Panoramablick in die Schlucht.

Vor mir liegt die Vorotan-Schlucht, soweit ich blicken kann. Ein endloses, sanft gewundenes Band, dessen Ende sich im blauen Dunst verliert. Die steilen Hänge sind mit einem smaragdgrünen Teppich aus Bäumen bedeckt, weit unter mir sehe ich das Blau des Flusses zwischen den Bäumen schimmern.

Ich muss mich stark beherrschen, nicht alle paar Minuten stehen zu bleiben und neue Fotos zu schießen. Als ich schon einige Zeit gegangen bin, blicke ich zurück und sehe hinter mir die Ruinen von Khot. Wahnsinn! Aus der Ferne sieht die Stadt wirklich fast wie Machu Picchu aus.

Hin Khot aus der Ferne.
Noch ein letzter Blick zurück zum „Machu Picchu Armeniens“.

Landschaften wie aus dem Bilderbuch

Der Weg verläuft abwechselnd am Rand der Schlucht und durch kleine Seitentäler in den Felsen. Über mir türmen sich bizarre Steinformationen in Kegelform auf. Ein Wasserfall schießt die Felsen herab und verschwindet im grünen Halbdunkel unter mir.

Es kommt mir vor als würde ich durch eine Märchenlandschaft spazieren.

Die Mittagshitze in der Schlucht ist unbarmherzig, aber ich bin trotzdem in Hochform. Zuerst diese faszinierende Ruinenstadt, jetzt dieser tolle Wanderweg. Der Tag war jetzt schon ein voller Erfolg und ich habe ja noch einige Kilometer zu laufen.

Shinuhayr am Wegesrand.
In Shinuhayr gibt es weniger Ruinen.

Schließlich komme ich am nächsten Punkt des Weges an. Ein weiteres verlassenes Dorf, Shinuhayr, wartet auf mich. Die schweigenden Ruinen der Häuser lassen nur ahnen, wie es hier früher einmal ausgesehen haben mag. Kein Lüftchen regt sich. Eine drückende Stimmung liegt in der Luft.

An dieser Stelle teilt sich der Weg. In der einen Richtung folgt der Pfad weiter dem natürlichen Verlauf der Schlucht, in der anderen Richtung geht es nach unten ins grüne Halbdunkel der Schlucht. Das Rauschen des Wassers ist jetzt viel lauter.

Ich habe ausreichend Zeit bis es dunkel wird und versuche es mit dem Weg nach unten, der zwischen überwucherten Gärten steil in die Schlucht führt. Der mit Steinen gepflasterte Pfad hat schon bessere Tage gesehen. Zwischen den grob gehauenen Pflastersteinen wuchert das Gras, die Metallgitter zu den Gärten sind verrostet.

So ganz verlassen ist Shinuhayr anscheinend aber auch nicht. Zwischen den Bäumen grasen ein paar verloren wirkende Ziegen und ich höre das leise Bimmeln von Kuhglocken. Obwohl viele der Häuser verfallen sind, sehe ich immer wieder verriegelte Türen. Vielleicht Hirten, die hier übernachten oder den Sommer bei ihren Herden verbringen.

Von Shinuhayr nach Halidzor

Nach einer Weile teilt sich der Pfad erneut und führt auf verschlungenen Wegen immer weiter in die Schlucht hinein. Wahrscheinlich könnte man hier tagelang wandern, aber so viel Zeit habe ich leider nicht. Ich erfrische mich an einem Brunnen und laufe den gleichen Weg wieder hoch.

Von Shinuhayr aus ist der Wanderweg entlang der Schlucht schlechter markiert. Nur noch unregelmäßig taucht die rot-weiße Markierung an einem Stein auf, irgendwann muss ich über ein rostiges Eisengatter klettern, das den Weg versperrt.

Ein Tor versperrt den Wanderweg in der Vorotan-Schlucht.
Hier hilft nur drumherumlaufen.

So langsam setzt mir die Sonne doch etwas zu und ich beginne, den oberen Rand der Schlucht nach der Silhouette des Dorfes Tatev abzusuchen. Irgendwo vor mir muss doch die Seilbahn sein, die mich zurückbringt. Aber die Landschaft verliert sich im Dunst und bis auf einen einsamen Strommast auf meiner Seite der Schlucht entdecke ich nichts.

Kurz bevor ich Halidzor erreiche, die letzte verlassene Siedlung auf dem Weg nach Tatev, öffnet sich die Schlucht noch einmal majestätisch vor mir und gibt den Blick frei. Auf einem langgezogenen spärlich bewaldeten Hügel führt eine Schotterpiste in einem perfekt geschwungenen geometrischen Muster nach unten. Das muss der Weg zur Landstraße weiter oben sein.

Die Seilbahn kann nicht mehr weit sein!

Weg zum oberen Rand der Schlucht.

Abschied von der Vorotan-Schlucht

Leider zieht sich der Weg länger als gedacht. Meine Wasservorräte neigen sich langsam aber sicher dem Ende zu, während ich durch eine ausgetrocknete Landschaft aus Steinen, Disteln und sonnengebleichtem Gras stapfe. Die Luft ist flirrend heiß. Meine Augen brennen von dem Schweiß, der mir bei jedem Schritt über die Stirn läuft.

Nur noch eine Biegung, dann bin ich da. Ganz bestimmt!

Schließlich komme ich in Halidzor an. Eine Siedlung, die wirklich den Namen Ruine verdient. Bis auf ein paar klägliche Mauerreste ist nicht viel übriggeblieben.

Ruinen des Dorfs Halidzor.
Vom alten Dorf Halidzor ist nicht viel übriggeblieben.

Eine Kuhherde lungert träge in der Nachmittagssonne herum. Die Tiere vertreiben die Fliegen mit ihrem Schwanz und scheinen nur mäßig an dem Besucher aus Deutschland interessiert zu sein, der auf einmal aus dem Nichts auftaucht.

Und da ist auch endlich die Straße, die hier die Schlucht durchquert und nach oben führt. Am Hang erkenne ich deutlich den Mast der Seilbahn und ein kleines Gebäude. Zwar noch ein gutes Stück vor mir, aber jetzt ist es nicht mehr weit.

Ich sammle meine Reserven und mache mich auf zum letzten Stück, während ich weit entfernt eine Gondel in der Sonne aufblitzen sehe.

Kleine Pause mit Blick in die Schlucht.

Als ich an der Straße ankomme, stelle ich fest, dass ich mich zu früh gefreut habe. Das Gebäude entpuppt sich als Verteilerhäuschen und der Mast ist nur ein weiterer Strommast. Die Seilbahn befindet sich auf einem weiteren langgezogenen Hügel über mir.

Ich stelle mich mental darauf ein, zwei weitere Kilometer entlang der Schotterpiste nach oben zu laufen und verfluche den Konstrukteur der Piste.

Die Straße schlängelt sich in einem geradezu unverschämt flachen Neigungswinkel an dem Hügel nach oben. In der Hitze kommt mir der Weg endlos lang vor und ich überlege ernsthaft, ob ich nicht einfach querfeldein nach oben kraxeln soll.

Das letzte Stück des Wanderwegs.

Per Anhalter zur Seilbahn Tatev

Aber ich habe Glück. Von weiter unten kommt ein Auto und wie in Armenien üblich hupt mich der Fahrer an und winkt mir zu. Einige Augenblicke später sitze ich neben ihm und lasse mich das letzte Stück nach oben kutschieren.

Überraschenderweise spricht mein Retter gutes Englisch. Den Grund dafür finde ich schnell heraus: Aram, so sein Name, hat in Amerika studiert. Er erzählt mir, dass er gerade einige Freunde in Tatev besucht hat und jetzt auf dem Rückweg nach Yerevan ist.

Eigentlich verrückt, denke ich mir. Von der Abgeschiedenheit der armenischen Provinz aus betrachtet scheint die trubelige Hauptstadt Armeniens Millionen von Kilometern entfernt. In Wirklichkeit sind es gerade einmal 3 Stunden mit dem Auto. Die Größenordnungen in diesem kleinen Land sind eben doch etwas anders.

Nach kurzer Fahrt lässt mich Aram raus und ich wünsche ihm eine gute Weiterfahrt. Oben an der Seilbahn angekommen werde ich informiert, dass die nächste Gondel in einer halben Stunde fährt. Perfekt – Zeit genug für ein dickes, fettes Eis, das ich mir jetzt redlich verdient habe.

Ich setze mich auf eine Bank in dem hübschen kleinen Park an der Station und lasse meinen Blick zum Kloster Tatev auf der anderen Seite der Schlucht schweifen. Außer mir warten nur noch ein paar andere Armenier, die am Abend ins Dorf zurückkehren. Die Tagestouristen sind alle schon wieder weg.

Was für ein wahnsinnig toller Tag! Ich bin zufrieden mit mir und dem Rest der Welt und fühle mich wie ein Entdecker, der ein unbekanntes Land gefunden hat.

Seilbahnstation Wings of Tatev.
An der Station der Seilbahn Wings of Tatev endet diese wunderbare Tour.

Zurück in der Zivilisation

Schließlich kommt die Seilbahn an und entlässt die letzten verbleibenden Touristen, die sich pflichtbewusst das Kloster angeschaut haben und jetzt noch einmal brav für ein Selfie vor der Vorotan-Schlucht posieren. 

Wenn die nur ahnen würden, welche Wunder sich da verbergen, denke ich mir.

Aber eigentlich bin ich ganz froh, dass sie es noch nicht wissen. Früher oder später wird der Rest der Welt sowieso davon erfahren. Dass ich den Zauber dieses magischen Ortes ganz alleine erfahren durfte, war ein großes Geschenk.

Während ich einsteige, schaue ich noch einmal zurück. War ich wirklich vor zwei Stunden noch da unten? Wieder in der Zivilisation kommt mir mein Ausflug irgendwie unwirklich vor. Die Erinnerung beginnt zu verblassen, so als wäre ich gerade eben aus einem Traum aufgewacht.

Ich versuche mir jedes einzelne Detail des heutigen Tages ganz fest einzuprägen, den Moment in der Zeit einzufrieren und werfe einen letzten Blick in die Vorotan-Schlucht.

In weiter Ferne schimmern die Ruinen von Khot auf ihren Terrassen, wie eine Fata Morgana und gerade noch sichtbar, aber nur wenn man genau weiß, wo man hinschauen muss.

Dann schließen sich die Türen der Gondel und der Traum ist vorbei.

Vorotan Schlucht am späten Nachmittag.

Praktische Infos und Anreise

Wenn du in der Provinz Syunik im Süden Armeniens bist, kann ich dir diese Wanderung wärmstens ans Herz legen! Sie lässt sich auch hervorragend mit einem Besuch des nahegelegenen Klosters Tatev verbinden.

Anfahrt zur Vorotan-Schlucht

Die nächstgrößere Stadt Goris liegt etwa 20 km nördlich. Ich bin von dort zuerst nach Tatev gefahren, das sich auf der südlichen Seite der Vorotan-Schlucht befindet und mit der Seilbahn Wings of Tatev von Halidzor erreichbar ist. In Tatev gibt es etliche Hostels und Homestays, unter anderem einen Campingplatz direkt neben der Seilbahnstation.

Um nach Khot zu gelangen, kannst du von Tatev aus ein Taxi nehmen. Die Fahrt dauert etwa eine halbe Stunde und kostet knapp 10 Euro. Von Khot läufst du dann durch die Schlucht zurück bis zur Seilbahnstation in Halidzor gegenüber von Tatev. Hier gibt es auch einen Parkplatz, falls du mit dem Auto anreist.

Karte und GPS-Track

Ich habe meine Route auf der Tour aufgezeichnet. Du kannst sie dir hier als GPX-Datei herunterladen und mit deinem Navi oder der Navi-App deines Vertrauens benutzen.

Strecke

Die Tour selbst ist nicht sonderlich schwierig und mit etwas mehr als 13 Km auch nicht so lang. Am Anfang musst du allerdings ein Stückchen in die Schlucht herunter- und am Ende auch wieder hochlaufen. Plane neben der Wanderung durch die Vorotan-Schlucht aber auch genug Zeit für die Ruinen von Khot ein. Ich habe insgesamt etwa 7 Stunden gebraucht, davon knapp 2 Stunden in Khot und mit etlichen Fotostops.

Die Orientierung ist ziemlich einfach, da du einfach dem Verlauf der Schlucht folgst. Es gibt etliche unmarkierte Trampelpfade. Der Hauptweg ist aber (meistens) mit einer Markierung gekennzeichnet. Nimm im Zweifelsfall immer die rechte Abzweigung, links geht es runter in die Schlucht. Wenn du dich dem Ende näherst, siehst du schon von weitem die Seilbahn.

Mitbringen

Auf dem gesamten Weg gibt es keinerlei Möglichkeiten etwas zu essen oder zu trinken zu kaufen. Auch die Ruinen von Khot sind völlig sich selbst überlassen und ohne jegliche touristische Infrastruktur. Bring also ausreichend Proviant und vor allem Wasser mit, da es in der Mittagshitze sehr heiß wird. In der Nähe von Shinuhayr gibt es zur Not aber einen Brunnen.

Weiterhin empfehlenswert sind eine Kopfbedeckung gegen die Sonne und feste Wanderschuhe. Wenn du anschließend nach Tatev willst, brauchst du auch noch das Geld für die Seilbahn. Die Fahrt kostet 10 Euro für eine Einzelfahrt und 15 Euro Hin und Zurück. Die letzte Fahrt ist täglich um 18:00 Uhr.

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